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Abstract |
Als Harold Garfinkel im Rahmen des Purdue Symposiums die Entstehungsgeschichte des Begriffs „Ethnomethodologie“ erläuterte, tat er dies am Beispiel der Geschworenen-Studie, die Fred Strodtbeck im Jahr 1954 an der University of Chicago aufgegleist hatte. Strodtbeck hatte den Verhandlungsraum der Geschworenen verwanzt und beauftragte Garfinkel und Saul Mendlowitz, sich erst die Tonbänder anzuhören und anschließend die Geschworenen zum Verhandlungsverlauf zu befragen. Damals war gerade die Kleingruppenforschung en vogue, und gerade hatte die Interaktionsanalyse von Robert F. Bales Furore gemacht. Es lag daher nahe, auf diese Weise auch die Geschworenenverhandlung zu analysieren und deren typische gruppendynamischen Merkmale herauszuarbeiten, die sie mit anderen Gruppenprozessen vergleichbar machte. Im Laufe des Projekts warf Edward Shils, der die Projektaufsicht für die Ford Foundation innehatte, mal die Frage auf, „was macht sie zu Geschworenen?“ Strodtbeck entgegnete, er stelle die falsche Frage, und Shils stimmte zu. Doch genau diese Fragestellung verfolgten Garfinkel und Mendlowitz in ihrer Studie. Der gemeinsame Artikel figuriert in den „Studies“ als Kapitel 4.
In Garfinkels frühen Studien ist der Einfluss der Phänomenologie auf sein Denken sehr deutlich. Entsprechend nennt er im Vorwort zu den „Studies“ neben dem Soziologen Talcott Parsons drei Phänomenologen als seine Mentoren: Alfred Schütz, Aron Gurwitsch und Edmund Husserl. Im Unterschied zu Schütz interpretierte Garfinkel die phänomenologische Lebensweltanalyse allerdings nicht als philosophische Begründung der sozialwissenschaftlichen Methodologie, sondern als Inspirationsquelle und Wegbereiter eines alternativen soziologischen Ansatzes. So stellte er in seiner Dissertation in Bezug auf das Problem der sozialen Ordnung Parsons’ „Korrespondenztheorie“ die Schützsche „Kongruenztheorie“ gegenüber – eine Kontrastierung, von der Schütz selbst sich nicht begeistert zeigte. Ziel meiner Präsentation ist es, am Beispiel der Geschworenen-Studie herauszuarbeiten, inwieweit Garfinkel und Mendlowitz die phänomenologische Lebensweltanalyse als Ressource für ihre Analyse verwenden; inwieweit sie diese modifizieren, indem sie sie soziologisch wenden; inwieweit sie also „phänomenologisch“ oder „soziologisch“ argumentieren; welchen theoretischen Status die herausgearbeiteten „Regeln“ haben und auf welcher methodischen Grundlage sie erarbeitet wurden; und schließlich inwieweit durch diese Studie die Forschungsfrage beantwortet wird, was Geschworene zu Geschworenen macht.
Anschließend wird der Bogen weiter gespannt. Die Formulierung von Regeln war nur ein Durchgangsstadium, Garfinkels Denken hat sich kontinuierlich weiterentwickelt. In der Folge wurde das Verhältnis von Phänomenologie und Ethnomethodologie immer wieder mal diskutiert; George Psathas interpretierte die EM als „phänomenologische Soziologie“, während eine Reihe von Ethnomethodologen sie explizit von der PH abgrenzten: PH sei Bewusstseinsanalyse, EM dagegen Soziologie. Damit eröffnen sich interessante Bezugspunkte zu Luckmanns klarer Unterscheidung von Protosoziologie und Soziologie, welche hier in Konstanz proklamiert wurde und die deutschsprachige Wissenssoziologie bis heute prägt. Meine These ist, dass Garfinkel fruchtbare Wege aufgezeigt hat, phänomenologische Lebensweltanalyse und soziologische Forschung wesentlich engmaschiger miteinander zu verweben. |
Authors |
Eberle, Thomas S. |
Editors |
Bergman, Jörg R. & Meyer, Christian |
Language |
German |
Subjects |
social sciences |
Date |
May 2021 |
Publisher |
transcript |
Place of Publication |
Bielefeld |
Page Range |
101-118 |
Number of Pages |
18 |
Title of Book |
Ethnomethodologie Reloaded |
ISBN |
978-3-8376-5438-7 |
Publisher DOI |
https://doi.org/10.14361/9783839454381 |
Official URL |
https://www.transcript-verlag.de/chunk_detail_seit... |
Depositing User |
Prof. em. Thomas Eberle
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Date Deposited |
26 Jan 2022 10:14 |
Last Modified |
20 Jul 2022 17:47 |
URI: |
https://www.alexandria.unisg.ch/publications/265741 |