Über die Rechtfertigung der Scheidung. Scheidungsdiskurse in einem Schweizer Familiengericht
Type
conference paper
Date Issued
2016-09-31
Author(s)
Abstract (De)
Ehescheidung hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts von einer stark stigmatisierten gesellschaftlichen Ausnahme zu einem Phänomen in Normalbiographien entwickelt. Die Auflösung einer Ehe ist ein Ereignis, das einen Grossteil der Bevölkerung westlicher Gesellschaften betrifft. Der Anteil der von Scheidung Betroffenen hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. In der Schweiz etwa lag die Scheidungsziffer zu Beginn der 2000er Jahre bei über 50 Prozent, während sie bis in die 1970er Jahre keine 15 Prozent betrug.
Aus soziologischer Perspektive ist die Scheidung ein sozialer Tatbestand, der einer Rechtfertigung benötigt, um gesellschaftlich anerkannt und (vor Gericht) legitimiert zu werden. Scheidung ist kein privates Arrangement, das dem Regime der Liebe („régime d'agapè“) angehört, sondern unterliegt als öffentliche Institution dem Regime der Gerechtigkeit und damit einem „Imperativ zur Rechtfertigung“ (Boltanski/Thévenot 2007). Gerade in den Streitsituationen vor Gericht sind die Beteiligten gezwungen, Argumente zu fabrizieren um sich zu rechtfertigen. Je zugespitzter die Situation ist, desto expliziter müssen die Beteiligten sich um Argumente bemühen, die auf allgemeine Normen zurückgreifen.
In der soziologischen Scheidungsforschung konzentrieren sich viele Studien vor dem Hintergrund der Rational-Choice- und Austauschtheorie(n) auf verschiedene Risikofaktoren und Scheidungswahr-scheinlichkeiten in Bezug auf sozio-strukturelle Indikatoren. Zwar verfügen solche sozialstrukturellen Untersuchungen über ein gewisses Erklärungspotenzial. In Bezug auf die individuelle Ebene ist vielmehr eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Faktoren individueller Entscheidungsprozesse und ihrer Rahmung (Huinink 2006) sowie der Rekurs auf Kognitionen und normative Überzeugungen der Akteure (Kopp et al. 2010) nötig.
Die Studie hat in einer wissenssoziologischen Perspektive Rechtfertigungsmuster und damit soziale Repräsentationen von Scheidung zum Gegenstand. Es wird der Frage nachgegangen, wie Ehepartner in der Situation vor Gericht ihr Scheidungsbegehren rechtfertigen, welche Argumente sie vor Gericht bemühen und wie sie ihre Gerechtigkeitsprinzipien zur Sprache bringen. Dabei bilden die alltags-wissentlichen Diskurse aus einer „bottom-up“ Perspektive die alltäglichen sozialen Repräsentationen von Ehe, von Familie, ihrem Zusammenhalt aber auch ihrer Desintegration ab. Damit stellt die Arbeit die alltagswissentlichen Diskursen mit ihren subjektiven Situationsdefinitionen in den Mittelpunkt und kommt nicht nur einer Forderung der neueren Familiensoziologie nach, nämlich der, möglichst „nahe genug“ an die Menschen heranzukommen (Huinink 2006) und Trennungsmotive und -ursachen aus einer „Innenperspektive“ zu beurteilen (Kopp et al. 2010), sondern auch der von Boltanski postulierten methodologischen Notwendigkeit, so nahe wie möglich an dem zu bleiben, was die Personen sagen und ihre Rechtfertigungen, ihre Kritik und, allgemeiner gesagt, die moralischen Forderungen, auf die sie sich beziehen, ernst zunehmen (Boltanski 2007). In der diskursiven Praxis der Rechtfertigung stellen die Betroffenen gleichsam Normen auf, ausserhalb derer ein eheliches Zusammenleben nicht mehr vorstellbar ist.
In der Schweiz mussten sich bis zum Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechts im Jahr 2000 die zur Scheidung entschlossenen Personen vor Gericht für ihren Scheidungswunsch rechtfertigen, mussten in einem Scheidungsdossier Gründe für ihren Scheidungswillen angeben, konnten sich aber auch den Anschuldigungen des Partners stellen und Widerspruch einlegen. Dabei werden ihre Kriterien der Rechtfertigung sicht- und analysierbar.
Für die Studie (im Rahmen eines vom SNF geförderten Projektes) wurden 48 Scheidungsfälle in einem Schweizer Familiengericht analysiert, in denen der Wunsch nach einer Scheidung formuliert und begründet wurde. Abschliessend werden die Rechtfertigungen mit den in der Studie ebenso analysierten Diskurs- und Begründungspraktiken politischer Akteure im Rahmen der Scheidungsrechtsreform in den 1990er Jahren verglichen und historisch verortet.
Aus soziologischer Perspektive ist die Scheidung ein sozialer Tatbestand, der einer Rechtfertigung benötigt, um gesellschaftlich anerkannt und (vor Gericht) legitimiert zu werden. Scheidung ist kein privates Arrangement, das dem Regime der Liebe („régime d'agapè“) angehört, sondern unterliegt als öffentliche Institution dem Regime der Gerechtigkeit und damit einem „Imperativ zur Rechtfertigung“ (Boltanski/Thévenot 2007). Gerade in den Streitsituationen vor Gericht sind die Beteiligten gezwungen, Argumente zu fabrizieren um sich zu rechtfertigen. Je zugespitzter die Situation ist, desto expliziter müssen die Beteiligten sich um Argumente bemühen, die auf allgemeine Normen zurückgreifen.
In der soziologischen Scheidungsforschung konzentrieren sich viele Studien vor dem Hintergrund der Rational-Choice- und Austauschtheorie(n) auf verschiedene Risikofaktoren und Scheidungswahr-scheinlichkeiten in Bezug auf sozio-strukturelle Indikatoren. Zwar verfügen solche sozialstrukturellen Untersuchungen über ein gewisses Erklärungspotenzial. In Bezug auf die individuelle Ebene ist vielmehr eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Faktoren individueller Entscheidungsprozesse und ihrer Rahmung (Huinink 2006) sowie der Rekurs auf Kognitionen und normative Überzeugungen der Akteure (Kopp et al. 2010) nötig.
Die Studie hat in einer wissenssoziologischen Perspektive Rechtfertigungsmuster und damit soziale Repräsentationen von Scheidung zum Gegenstand. Es wird der Frage nachgegangen, wie Ehepartner in der Situation vor Gericht ihr Scheidungsbegehren rechtfertigen, welche Argumente sie vor Gericht bemühen und wie sie ihre Gerechtigkeitsprinzipien zur Sprache bringen. Dabei bilden die alltags-wissentlichen Diskurse aus einer „bottom-up“ Perspektive die alltäglichen sozialen Repräsentationen von Ehe, von Familie, ihrem Zusammenhalt aber auch ihrer Desintegration ab. Damit stellt die Arbeit die alltagswissentlichen Diskursen mit ihren subjektiven Situationsdefinitionen in den Mittelpunkt und kommt nicht nur einer Forderung der neueren Familiensoziologie nach, nämlich der, möglichst „nahe genug“ an die Menschen heranzukommen (Huinink 2006) und Trennungsmotive und -ursachen aus einer „Innenperspektive“ zu beurteilen (Kopp et al. 2010), sondern auch der von Boltanski postulierten methodologischen Notwendigkeit, so nahe wie möglich an dem zu bleiben, was die Personen sagen und ihre Rechtfertigungen, ihre Kritik und, allgemeiner gesagt, die moralischen Forderungen, auf die sie sich beziehen, ernst zunehmen (Boltanski 2007). In der diskursiven Praxis der Rechtfertigung stellen die Betroffenen gleichsam Normen auf, ausserhalb derer ein eheliches Zusammenleben nicht mehr vorstellbar ist.
In der Schweiz mussten sich bis zum Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechts im Jahr 2000 die zur Scheidung entschlossenen Personen vor Gericht für ihren Scheidungswunsch rechtfertigen, mussten in einem Scheidungsdossier Gründe für ihren Scheidungswillen angeben, konnten sich aber auch den Anschuldigungen des Partners stellen und Widerspruch einlegen. Dabei werden ihre Kriterien der Rechtfertigung sicht- und analysierbar.
Für die Studie (im Rahmen eines vom SNF geförderten Projektes) wurden 48 Scheidungsfälle in einem Schweizer Familiengericht analysiert, in denen der Wunsch nach einer Scheidung formuliert und begründet wurde. Abschliessend werden die Rechtfertigungen mit den in der Studie ebenso analysierten Diskurs- und Begründungspraktiken politischer Akteure im Rahmen der Scheidungsrechtsreform in den 1990er Jahren verglichen und historisch verortet.
Language
German
Keywords
Ehescheidung
Ehe
Familie
Rechtfertigung
Boltanski
HSG Classification
contribution to scientific community
Book title
Geschlossene Gesellschaften
Volume
Bd. 38
Event Title
38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie - Sektion Familiensoziologie: Aktuelle Projekte familiensoziologischer Forschung
Event Location
Bamberg
Event Date
26.-30.09.2016
Subject(s)
Division(s)
Eprints ID
249328